Im Paradies
Garabet und Rosa Nasri aus Rakka haben als Christen den Islamischen Staat Überlebt. Wie schafft man das?
Er vergisst immer mehr. Manchmal geht er aus dem Haus, setzt sich in seinen Transporter, von dem man sich wundert, dass er überhaupt noch fährt, scheppert durch die staubigen Straßen von Rakka in Richtung seiner Werkstatt und merkt irgendwann, dass er sich in der Trümmerlandschaft verloren hat. Vor den Ereignissen, sagt Garabet Ilias Nasri, seien die Augen besser gewesen und er habe für drei junge Männer arbeiten können. Heute sitzt er, 72 Jahre alt, meist auf einem der Metallhocker auf der matschigen, ölgetränkten Straße vor der Werkstatt, trinkt Tee und lässt seinen Mitarbeiter Autos zusammenschweißen, welche die Arbeit nicht wert scheinen. Die Ereignisse haben Garabet gebrochen, und es ist, als hätten sie ihm die Worte geraubt, sie zu beschreiben.
Es war ein Tag im Herbst des Jahres 2016. Der orange Anzug, den der Islamische Staat den Todgeweihten vorbehielt, lag wie eine Drohung vor ihm in der Zelle. So viel weiß er noch. Seine Exekution sollte am nächsten Tag stattfinden. Konvertiere – und wir lassen dich frei, hieß es. Aber Garabet wollte standhaft sein, wollte seinen Glauben nicht verleugnen. Also bereitete er sich auf seinen Tod vor.
Nicht weit entfernt hatte sich der Tunesier, der sich Abu al-Fida nannte, bei Garabets Frau Rosa Nasri angekündigt. Als sie hörte, dass Abu al-Fida auf dem Weg war, habe sie die Kreuze und Ikonen in ihrer Wohnung versteckt.
Abu al-Fida war Herrscher über die Christen in der Hierarchie des Islamischen Staates in Rakka. Sein Name ist Arabisch für "Vater der Erlösung". Es war der Alias, unter dem ihn die Christen in der Stadt kannten. Er gab sich gütig und Rosa die Hoffnung, dass sie ihren Mann lebendig wiedersehen würde. Nur eine Bedingung: Sie solle Garabet dazu bewegen, zu konvertieren, dann würde er überleben. Sie könne eine Nachricht auf Band sprechen, die Abu al-Fida ihrem Mann übergeben wolle.
Staub über Trümmern
Der Dieselofen in ihrem Wohnzimmer heizt zischend gegen die Kälte an. Die Kreuze und Ikonen hängen wieder. Seit Garabet sich auf seinen Tod vorbereitete, sind zwei Jahre vergangen. Seine und Rosas Wohnung liegt im Erdgeschoss eines Hauses, das mit Einschusslöchern übersät ist. In der ersten Etage klafft ein Loch, wo einst eine Wand war. Aus dem Balkon im zweiten Stock hängt eine verkohlte Wolldecke. Sie muss dort seit mehr als einem Jahr liegen. Die Wohnung im dritten Stock, in die nach der Befreiung wieder eine Familie einzog, ist notdürftig mit Betonziegeln geflickt. Niemand traut sich in die Wohnungen in der ersten und zweiten Etage hinein, sagt Rosa. Zu groß ist die Angst, dass die Kämpfer des Islamischen Staates sie vor ihrem Abzug vermint haben.
Draußen legt sich der Staub über die Trümmer der Stadt, deren Name die Welt in Furcht versetzt hat. Rakka war für vier Jahre De-facto-Hauptstadt des Islamischen Staates. Die Stadt war dafür berüchtigt, dass in den Straßen schwarz maskierte Kämpfer patrouillierten, die jeden Regelbruch gegen ihr Moralverständnis hart bestraften, die auf den Plätzen der Stadt Menschen exekutierten und ihre Köpfe auf Zäunen aufspießten. Rakka war stadtgewordener Terror.
Das, was man hier als die Ereignisse bezeichnet, begann vor mehr als acht Jahren. Damals, Anfang 2011, lehnten sich die ersten Menschen in Syrien gegen eine Regierung auf, die sie vernachlässigte und unterdrückte. Die Proteste nahmen im Norden des Landes ihren Anfang und erfassten viele der ländlichen Gebiete. Präsident Baschar al-Assad ließ sie brutal niederschlagen. Desertierte Offiziere, die nicht gegen die Demonstranten vorgehen wollten, organisierten sich zur Freien Syrischen Armee. Anders als ihr Name es vermuten lässt, war sie mehr als ein loser Zusammenschluss verschiedener bewaffneter Gruppierungen ohne zentrale Hierarchie. Spätestens im folgenden Jahr war die Situation zu einem Bürgerkrieg eskaliert. Damals gründeten Mitglieder von Al-Kaida und dem Islamischen Staat im Irak mit Jabhat al-Nusra eine der ersten radikalislamischen Gruppierungen in den Reihen der Opposition gegen Assad.
In Syrien lebt eine der ältesten christlichen Gemeinden der Welt. In der antiken syrischen Stadt Antiochien nannten sich die Anhänger Jesu zum ersten Mal Christen. Vor den Ereignissen lebten geschätzt 2,5 Millionen von ihnen im Land. Seitdem sind zwischen 300.000 und 800.000 geflohen. Genaue Zahlen gibt es nicht. In Rakka war die Zäsur besonders tief. Bevor der Islamische Staat kam, lebten hier 2000 Christen, heute sind es vielleicht noch ein Dutzend Versprengte. Garabet und Rosa sind unter ihnen. Sie gehören zu den wenigen, welche die Stadt nie verlassen haben. Nicht weil sie nicht wollten, sondern weil sie nicht konnten.
Im März 2013 nahmen die Rebellen Rakka ein, die Stadt, in der Garabet aufwuchs und die immer seine Heimat war. Für einen fliehenden Moment gab es die Hoffnung, sie könnte zu einem Vorbild für ein demokratisches Syrien nach Assad werden. Junge Menschen organisierten sich und gründeten zivile Selbstverwaltungen. Aber es herrschte Anarchie, und keine Gruppierung schaffte es, die Stadt unter Kontrolle zu bringen. Die Rebelleneinheiten waren zu zerklüftet und die Zivilisten zu schwach. Dann kamen die Männer mit den schwarzen Masken und füllten das Vakuum.
Der Islamische Staat, der zuvor nur im Irak aktiv war, hatte seinen Einflussbereich auf Syrien ausgeweitet und sich von Al-Kaida losgesagt. Es begann ein rasanter und brutaler Siegeszug. Die maskierten Männer, die man hier nur Daesch nach den arabischen Initialen der Gruppe nennt, brachten eine Stadt nach der anderen unter ihre Kontrolle. Rosa erinnert sich, wie sie von der Terrasse ihrer Wohnung sehen konnte, wie diese seltsame Gruppe durch ihre Straße zog. "Schau dir die Leute mit diesen langen Bärten an", habe sie Garabet zugerufen und er habe geantwortet: "Das ist der Islamische Staat." Und dann, erinnert sie sich, fingen die Kämpfe an.
In Rakka eliminierte der Islamische Staat konkurrierende Rebelleneinheiten, ermordete Aktivisten, die sich für ein demokratisches Syrien einsetzten, und schickte Bilder von ihren misshandelten Leichen als Warnung an Mitstreiter. Auf der Straße waren die Kämpfer oft maskiert. Niemand sollte wissen, wer sie waren oder wo sie herkamen, niemand sollte sich sicher fühlen; allein das Wissen und die Brutalität sollte die Bevölkerung gefügig machen. Bis Ende des Jahres hatte der Islamische Staat Rakka unter seine Kontrolle gebracht. Und er machte den Christen in der Stadt von Anfang an klar, was sie unter seiner Herrschaft zu erwarten hatten.
Am 26. September 2013 stürmten Anhänger des IS die Bishara-Kirche in Rakka, rissen Kreuze und Bilder von der Wand und zündeten sie an. Dann zogen sie weiter zur Märtyrerkirche. Es gibt ein wackeliges Video, auf dem man ein halbes Dutzend maskierter Kämpfer auf dem Dach der Kirche sieht. Das Video beginnt, als das Kreuz auf der Kirchenspitze schon heruntergerissen ist und Männer gerade dabei sind, die schwarze Flagge zu hissen, die zum Symbol des Islamischen Staates geworden ist. Ein Mann in einem beigefarbenen Gewand, einer schwarzen Kampfweste und einer schwarzen Maske tritt an den Rand des Kirchendachs, reckt ein Kruzifix in die Höhe und wirft es hinunter zu den Männern und Kindern, die von der Straße aus zuschauen. Unten treten sie das Kruzifix ein wenig herum, als wären sie unsicher, was sie damit machen sollten, nehmen es schließlich auf und reißen sich darum. "Ist es das, was Baschar anbetet?", fragt ein Kind.
Das Verhältnis der syrischen Christen zu Präsident Baschar al-Assad ist von der Gewissheit geprägt, dass es Sicherheit im Gegenzug zu Loyalität gibt. Der Regierungsclan um Assad entstammt der alawitischen Minderheit, die Mehrheit im Land sind Sunniten. Um an der Macht zu bleiben, musste Assad die verschiedenen Minderheiten auf seiner Seite halten. Dafür brauchte es ein Bedrohungsszenario auf der anderen Seite. Die syrischen Christen haben das nach dem Fall Saddam Husseins im Nachbarland Irak erleben können. Bis zum Einmarsch der Amerikaner in den Irak im Jahr 2003 sollen dort 1,4 Millionen Christen gelebt haben. Heute sind es noch 250.000. Die meisten der irakischen Christen sind damals nach Syrien geflohen. Hier im Geburtsland ihrer Religion wähnten sie sich in Sicherheit. Mit dem Aufstieg des Islamischen Staates begannen die Ereignisse, Rosas und Garabets gemeinsames Leben zu bestimmen.
Ein einfaches Leben
Garabet ist ein wortkarger, dürrer Mann, seine Haare sind grau und hart, der stoppelige Bart steht in alle Richtungen. Seine Frau ist eine herzliche, rundliche Dame mit schmalen Lippen, die immer in Bewegung ist. Manchmal spricht sie die Worte, die er nicht findet, und manchmal widersprechen sich ihre Erzählungen. Zeit und Trauma scheinen ihre Spuren hinterlassen zu haben.
Garabet raucht, seitdem er zwölf Jahre alt ist, als sein Erwachsenenleben begann. Damals fing er an zu arbeiten. Auf den Feldern vor der Stadt hat er Traktoren während der Weizenernte repariert, sich als Hilfskraft bei anderen Mechanikern verdingt. Irgendwann, Anfang der Achtzigerjahre, arbeitete er in der Stadt Tabka als Aushilfe in der Werkstatt von Rosas Vater. Seine Hände seien schmutzig gewesen und er habe gefragt, ob er sie bei ihr im Haus waschen könne, erinnert sich Rosa.
"Oh", sagt sie, "er sah gut aus." So wie auf diesem Bild, das in ihrem Wohnzimmer über dem Sofa hängt. Dichter, dunkler Vollbart, dichte, dunkle Haare, ein voller Mund und buschige Augenbrauen. "Sie kam aus einer guten Familie und ich wollte eine Partnerin fürs Leben", sagt er. Also hielt er bei ihrem Vater um Rosas Hand an. "Nimm sie und geh", habe ihr Vater gesagt, erinnert sie sich. Sie willigte ein, auch weil Garabet, im Gegensatz zu den vielen anderen Männern, die um sie buhlten, ein Fremder war, kein Cousin, niemand aus der Verwandtschaft. Garabets Familie stammt aus Armenien, ihre aus Syrien. Am 5. Juli 1985, als Rosa 27 und Garabet 38 Jahre alt war, haben sie geheiratet.
Es gibt ein Foto von ihnen zusammen, das ein paar Jahre später entstanden sein muss. Sie stehen vor einer Herbstwald-Fototapete, er hat seinen Arm locker um ihre Schultern gelegt. Sie trägt ein glänzendes grünes Kleid. Ihre dicken Locken hat sie auf beide Seiten toupiert, der Kopf liegt zur Seite, und sie lacht mit geschlossenem Mund. Garabet lacht durch einen dicken, hufeisenförmigen Schnauzer. Sie sehen glücklich aus.
Garabet und Rosa hatten ein einfaches Leben. Er verließ um acht Uhr morgens das Haus, fuhr in die Werkstatt und kam um sechs Uhr abends zurück. Sie kümmerte sich um das Haus, häkelte oder trank Kaffee und rauchte Zigaretten dazu. Jeden Sonntag gingen sie in die Kirche. Sie trafen sich mit Freunden zum Essen, fuhren zu Verwandten nach Aleppo, gingen hinunter an den Euphrat und feierten und tanzten unten im Festsaal der Märtyrerkirche. "Es waren schöne Tage damals", sagt Rosa. Ein einziges Mal reiste sie ins Ausland. Sie fuhr in den Libanon, um einen Arzt zu konsultieren, weil sie keine Kinder bekam.
Die christliche Gemeinde in Rakka war so klein, dass man sich die beiden Kirchen, die griechisch-orthodoxe Sayyida-al-Bishara-Kirche und die armenisch-katholische Märtyrerkirche, teilte. Der letzte Zensus 2004 hat 220.000 Einwohner in der Stadt gezählt; knapp ein Prozent davon waren Christen. "Die Muslime und wir anderen waren wie Geschwister. Wir haben sie respektiert, sie haben uns respektiert", sagt Rosa.
Gefangen in Rakka
Die Ereignisse änderten alles. Rosa und Garabet sahen zu, wie ihre Verwandten die Stadt verließen. Erst wenige, als die Freie Syrische Armee in der Stadt war, als sich Unsicherheit unter den Christen breitmachte, als die Priester die Stadt verließen und die Kirchen schlossen. Und dann fast alle, nachdem der Islamische Staat die Macht übernommen hatte und die Menschen in Angst versetzte.
Im Februar 2014 erließ Abu Bakr al-Bagdadi, der Anführer des Islamischen Staates, ein Dekret, das die Christen, die unter dem Islamischen Staat lebten, zu Schutzbefohlenen erklärte. Dieser sogenannte Dhimmi-Vertrag stammt aus frühislamischer Tradition, wurde aber seit dem Ende des Osmanischen Reiches praktisch nicht mehr angewandt. Ursprünglich bot er Juden und Christen ein Mindestmaß an Schutz.
Bagdadi verkündete zwölf Regeln für Christen. Unter anderem durften sie keine Kirchen bauen oder reparieren, weder christliche Symbole öffentlich tragen noch für Muslime hörbar oder sichtbar beten. Sie mussten eine Schutzsteuer, die Dschizya, zahlen und sich in der Öffentlichkeit kleiden, wie es die Frömmigkeitsregeln des Islamischen Staates vorschrieben. Für seine Propagandisten war dies ein Beleg für die Rechtschaffenheit des IS. Keine Rechte hatten Angehörige anderer Religionsgemeinschaften: Der Islamische Staat versklavte jesidische Frauen und begrub deren Männer und Kinder lebendig in Massengräbern.
Garabet steckt sich eine Zigarette nach der anderen an. "Daesch ist der Grund, warum ich alles vergesse", sagt er. Seine Frau sagt, sie könne sich besser an die Ereignisse erinnern als er. Garabet hat verdrängt. Irgendwann, Ende 2013 muss es gewesen sein, habe der Islamische Staat ihn zum ersten Mal festgenommen. Maskierte Männer hätten ihn gefragt, ob er ihr Auto reparieren könne. Er sagt, für sie zu arbeiten wäre Verrat an seiner Gemeinde gewesen. "Wenn ich das gemacht hätte, wäre es gegen mich selber und gegen meine Verwandten gegangen." Also habe er so getan, als habe er sie nicht verstehen können. "Du bist Christ!", hätten sie ihm entgegnet und ihn festgenommen. Garabet landete zum ersten Mal im Gefängnis, erinnert er sich. In der Zelle, so groß wie ihr enges Wohnzimmer, waren zehn andere, die Matratzen waren mit Wasser vollgesogen.
Bei einer der ersten Verhaftungen nahm der Islamische Staat ihm seinen Pass ab, damit war der Weg aus der Stadt und vorbei an den unzähligen Checkpoints aus dem Territorium des Islamischen Staates versperrt. Garabet und Rosa waren in Rakka gefangen.
Sie passten sich an, versuchten zu überleben, Rosa ging nur vor die Tür, um das Nötigste zu erledigen. Sie trug dann den schwarzen Gesichtsschleier und die schwarzen Handschuhe, die der Islamische Staat vorschrieb. Garabet nahm das Kreuz und das Marienbild ab, die in seinem dürren Lastwägelchen vom Rückspiegel baumelten. Aber die beiden hatten nie viel. "Wenn er in seiner Werkstatt arbeitet, können wir essen. Wenn er nicht arbeitet, sind wir nicht einmal dazu in der Lage", sagt Rosa. Also musste Garabet sich dem Alltag in der Stadt stellen. Er ging jeden Morgen stoisch um acht Uhr in die Werkstatt, schweißte Autos zusammen, schepperte um sechs Uhr abends zurück und hoffte, dass die maskierten Männer ihn nicht behelligten, bedrängten, festnahmen.
Das Leben zog an ihnen vorbei. Der Islamische Staat strich die Fassade der Kirche der Märtyrer mattschwarz und konvertierte sie zu einem Missionierungsbüro. "Das Buch leitet dich und das Schwert bringt den Sieg", schrieben sie in weißen Lettern über die Eingangstüren. Dann strichen sie die Fassade weiß und machten aus dem Missionierungsbüro eine Polizeistation. Überzeugung wich Kontrolle. Und wen gab es noch zu missionieren? Die meisten Christen waren geflohen. Irgendwann haben IS-Kämpfer aus dem Keller der Kirche, in dem Rosa und Garabet einst tanzten und feierten, einen Fluchttunnel in Richtung des Parks auf der anderen Straßenseite gegraben.
In den Erinnerungen von Rosa und Garabet verschwimmt die Chronologie des Lebens und Leidens unter dem Islamischen Staat. Sie können sich oft nicht mehr genau erinnern, wann Garabet wofür festgenommen wurde. Er war so oft im Gefängnis, dass er und Rosa das Zählen aufgaben. Einmal habe der Islamische Staat Garabet auf der Straße angehalten, ihn gefragt, ob er Christ sei, und ihn gedrängt zu konvertieren. "Es geht euch nichts an. Wenn ich etwas falsch mache, weiß mein Gott, was er mit mir machen soll", erinnert sich Rosa anGarabets Worte. Dann hätten sie ihn festgenommen. Einmal hätten sie ihn beim Rauchen erwischt und ihn ins Gefängnis geworfen; ein andermal war er drei Monate in Haft, um nur eine Woche nach Freilassung wieder verhaftet zu werden. Einmal habe er sich nach der Freilassung seine Maske vom Kopf gezogen und sehen können, wo er in Gefangenschaft gewesen sei: in der Kirche der Märtyrer. Insgesamt habe er ein Jahr in den Verliesen der Maskierten gelitten, während Rosa zu Hause ausgeharrt und ihr Essen rationiert habe.
Sie gab sich ebenso störrisch und standhaft wie ihr Mann. Als Frau konnte man Widerworte geben, sagt Rosa, ohne sofort bestraft zu werden. Sie habe Abu al-Fida gesagt, sie sei Christin, das sei ihre Religion, erinnert sie sich. "Was kümmert dich das?", habe sie ihn gefragt. Und als ihr der Islamische Staat offeriert habe, als Köchin zu arbeiten, ihr 400 Dollar im Monat in Aussicht gestellt habe, habe sie das ausgeschlagen.
Der Schutzvertrag, den der Islamische Staat den Christen oktroyiert hatte, war nicht viel wert. Am 29. März 2016 erließ er ein Dekret, das den Christen und Armeniern verbot, die Stadt zu verlassen. Vermutlich, weil Garabet, Rosa und die anderen Verbliebenen als menschliches Schutzschild gegen einen drohenden Angriff dienen sollten.
Unter US-Führung hatte sich 2014 eine internationale Koalition gegen den Islamischen Staat gebildet. Die Bodentruppen stellten die Syrian Democratic Forces, kurz SDF, eine multiethnische und multireligiöse Koalition von Milizen, in der Christen und Muslime, Sunniten und Schiiten, Kurden, Assyrer und Araber kämpften. Sie zogen damals einen Belagerungsring um die Stadt, und der Sturm schien unmittelbar bevorzustehen. In dieser Zeit lebten nach Angaben von Anti-IS-Aktivisten gerade noch 43 christliche Familien in der Stadt. Die meisten, weil sie zu arm waren, um zu fliehen – oder weil sie wie Garabet oder Rosa keine Ausweispapiere mehr besaßen.
Flucht in den Schlaf
Als Garabet in Gefangenschaft war, hat Rosa ihre Wohnung nicht verlassen, für Tage nichts gegessen. "Mich hat das Essen nicht gekümmert, ich wollte nur meinen Mann zurück", sagt sie. Schlaf war ihre Flucht, manchmal döste sie fünf Tage am Stück. "Ich wusste nicht, was um mich herum passiert." Die Maskierten zogen in die verlassenen Wohnungen über ihrer. Sie kamen aus der Türkei, und einer aus Deutschland war auch unter ihnen. Immer wieder schauten sie, ob Rosa und Garabet noch da waren, weil sie auch ihre Wohnung in Beschlag nehmen wollten; sie beleidigten und bedrohten Rosa.
Abu al-Fida, der Tunesier, habe viel geredet, sagt Rosa, aber er sei gütig gewesen. Dem Islamischen Staat habe er sich nicht des Geldes wegen angeschlossen, sondern weil er tief religiös war und sich der Ideologie verbunden fühlte. Rosa scheint das zu respektieren. Ihr alter Nachbar hingegen sei kein guter Mann gewesen, sagt sie. Schon bevor der Islamische Staat kam, habe sie nichts mit ihm zu tun haben wollen.
Der Nachbar sei Christ gewesen, Armenier, habe irgendwann ein Geschäft für Elektrowaren in der Nachbarschaft betrieben. Als Rosa und Garabet zum ersten Mal in das Büro des Islamischen Staates gingen, um die Dschizya, die Schutzsteuer, zu zahlen, habe der alte Nachbar dagesessen. Er sei niemand Wichtiges gewesen, erinnert sich Rosa, nur ein ordinärer Informant. Garabet sei in Aleppo, Rosa nicht zu Hause – solche Dinge habe er weitergegeben. Warum er konvertiert ist und sich dem Islamischen Staat angeschlossen hat? Rosa reibt Daumen, Ring- und Mittelfinger aneinander und zieht ihre Mundwinkel verächtlich nach unten. "Money", sagt sie auf Englisch. "Er war schlimmer als Daesch."
Der Islamische Staat verlangte eine Dschizya über den Gegenwert von 18,5 Gramm Gold im Jahr – rund 300 Euro. Für Rosa und Garabet eine enorme Summe. "'Konvertiert, damit ihr nicht zahlen müsst', hat der Nachbar gesagt", erinnert sie sich. Der IS hätte die beiden gedrängt. "Sie haben gesagt, dass es keinen Jesus gibt. Keinen Jesus." Konvertieren hieße, dass Garabet nicht mehr ständig im Gefängnis landen würde, dass sie ein einigermaßen unbehelligtes Leben hätten führen können. Und was bedeutet eine Konversion schon, wenn sie nicht von Herzen kommt? Aber Rosa und Garabet haben sich geweigert, Geld bei Freunden geliehen und gezahlt.
Abu al-Fida war auch dort im Dschizya-Büro. Er war weder schwarz noch weiß, eher klein als groß, erinnert sich Rosa. Ein anderer Christ, der eine Druckerei in der Nähe der Märtyrerkirche betrieb und immer wieder Aufträge für den Islamischen Staat übernahm, beschreibt den Tunesier hingegen als dunkel und dicklich. Auch das war Teil der Strategie des Terrors des Islamischen Staates. Mitglieder nahmen Aliasse an, gaben sich als jemand anderes aus, ließen Doppelgänger Arbeit in der Öffentlichkeit übernehmen. Niemand sollte wissen, mit wem er es zu tun hatte, wer wo in der Hierarchie stand.
Vorbereitung auf den Tod
Irgendwann also, im Herbst des Jahres 2016, als Garabet mal wieder im Gefängnis saß, setzte sich der Mann, den Rosa als Abu al-Fida, den Tunesier, kannte, auf das knarzende Sofa in ihrem engen Wohnzimmer. Er sagte: "Meine Schwester, morgen werden wir deinen Mann köpfen." Rosa rang um Luft und konnte kein Wort hervorbringen, erinnert sie sich. Also wiederholte Abu al-Fida, was er gesagt hatte. "Morgen werden wir deinen Mann köpfen."
Rosas Blick fiel auf das Bild ihres Mannes an der Wand, auf dem er so schön und jung aussah. Dann hielt Abu al-Fida, der Vater der Erlösung, ihr das Telefon hin, auf das sie die Nachricht an ihren Mann sprechen sollte, und Rosa überwand sich und sprach und flehte ihn an, zu konvertieren. Abu al-Fida war in Begleitung von Garabets Neffen gekommen. Ansonsten hätte er gegen die Sittengesetze des Islamischen Staates verstoßen. Dann fuhr er weg in Richtung des Gefängnisses, in dem Garabet sich auf seinen Tod vorbereitete.
Die Dschizya zu zahlen reichte nicht mehr. Es gab nur noch zwei Optionen: Garabet konvertiert oder er stirbt. "Abu al-Fida hatte die Entscheidung schon getroffen, mich zu köpfen", sagt Garabet mit rauchiger Stimme. Er war stur gewesen, wie immer. Er habe sich den Männern, die in seine Werkstatt gekommen seien, widersetzt. "Bitte lasst mich alleine, für Gott!", hatte er ihnen gesagt, und dann hatten sie ihn als Sünder beschimpft, ihm eine Waffe an den Kopf gehalten und angekündigt, ihn in die Stadt Al-Bab zu schaffen, wo seine Exekution stattfinden sollte. So schildert er es. Er wartete in seiner Zelle auf den Tod. Garabet war bereit, für seinen Glauben zu sterben, als sein Neffe und Abu al-Fida zu ihm kamen und ihm die Aufnahme seiner Frau vorspielten.
"Wie geht es dir?", habe Rosa ihn in der Aufnahme gefragt. "Schau, wenn du Muslim sein willst, sei es dir frei. Wenn du es nicht sein willst, sei es dir auch frei. Ich kann dich nicht zwingen, etwas zu tun. Aber wir sind alle Geschwister hier. Es gibt keinen Unterschied zwischen den Religionen", erinnert sich Rosa an ihre Worte. "Sag ihnen, dass du Muslim bist." Was bedeutet das schon, wenn es nicht von Herzen kommt?
Garabet hörte die Stimme seiner Frau, die er vor mehr als dreißig Jahren geheiratet und mit der er seitdem fast jeden Tag verbracht hatte, in einer Gefängniszelle des Islamischen Staates. Kurz bevor sie ihn exekutieren sollten. "Wie soll man sich da schon fühlen?", fragt er. Er fing an zu weinen. Nach insgesamt einem Jahr in der Gefängniszelle willigte er schließlich ein und konvertierte, noch dort und in diesem Moment; den orangefarbenen Anzug musste er nicht über seinen gebrochenen Körper streifen. Was ist eine Konversion schon wert, wenn sie nicht von Herzen kommt?
17 Tage Terror
Aber was folgte, war nicht die erhoffte Freiheit, sondern die schlimmsten 17 Tage für Rosa und Garabet. Abu al-Fida musste die Entscheidung des Gerichts des Islamischen Staates abwarten, bevor er Garabet freilassen konnte. Und in der Zwischenzeit ließen die maskierten Männer Garabet ihre Grausamkeit spüren. Ihr Neffe hatte Rosa mitgeteilt, dass Garabet konvertiert war, aber sie ließen sie im Unklaren darüber, was mit ihrem Mann geschehen würde.
Zwischen den Trümmern finden sich bis heute Spuren, die vom Sadismus des Islamischen Staates zeugen. Im Stadion von Rakka etwa. Wegen seines dunklen Anstrichs nennen sie es hier das schwarze Stadion. Die Eingänge zu den Katakomben sind verschweißt. Durch die vergitterten Fenster sind ein halbes Dutzend Zellen zu sehen, die der Islamische Staat in einen der Räume gemauert hat. In einer Ecke sind zwei schwarz lackierte Metallringe in gut zwei Meter Höhe in der Wand montiert.
Garabet kann nicht mehr sagen, wo genau er diese 17 Tage eingekerkert war, aber er könnte an Metallringe wie diese gefesselt gewesen sein. 17 Tage lang. 22 Stunden am Tag. Die Hände über dem Kopf. Sie hätten ihn, damals 70 Jahre alt, gezwungen, auf einem Bein zu stehen, ihn nur für zwei Stunden schlafen lassen.
Die Unsicherheit sei schlimmer gewesen als die Gewissheit, dass er hätte tot sein können, sagt Rosa. "Ich habe die ganze Zeit geweint, 24 Stunden lang." Die Flucht in den Schlaf gelang nicht mehr. Immer ist sie nach Minuten in der Angst um ihren Mann aufgeschreckt. Die Nächte hat sie zu Maria betend verbracht. Und dann war da noch die Sorge, was die Gefangenschaft und die Gewissheit des kommenden Todes mit Garabet gemacht hätten. Rosa konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Mann die Zeit überstehen würde, ohne daran zu zerbrechen.
Dann ließen sie ihn frei. Nach 17 Tagen stand Garabet wieder bei ihr in der Wohnung. Verloren und ungläubig, ob er wirklich in Sicherheit sei. "Ich bin in meinem Haus angekommen und habe nicht verstanden, was mit mir passiert", sagt er. Er sei mit leerem Blick durch die Wohnung gewandelt und habe kein Wort gesprochen, sagt Rosa. Es gibt ein Foto, das ihn während dieser Zeit zeigt. Er trägt eine abgewetzte Lederjacke über einer Trainingsjacke und einen roten Wollpullover. Sein Bart ist dicht, über dem Mund ist er stoppelig-kurz rasiert. Garabet sieht müde aus, müde und verängstigt. Sie hat mit ihm über gute Erinnerungen geredet, damit er die schlechten vergisst. Langsam kam er zurück, und Rosa war erstaunt. "Er konnte noch zu uns reden, er konnte noch denken, er konnte sich an Dinge erinnern", sagt sie.
Aber die Freiheit kam mit Auflagen. Garabet musste lernen, wie er nach den Vorstellungen des Islamischen Staates ein guter Muslim wird. Drei Monate lang musste er zum Scharia- Training. Fünfzig Mann in einem dunklen Keller. Sie haben Garabet beigebracht, wie er zu beten habe, aber er legte sich stur in eine Ecke des Zimmers und tat, als sei er zu krank, um am Unterricht teilzunehmen. So erzählt er es. "Wir mochten den Islam", sagt Garabet, "aber Daesch hat uns gezwungen, ihn zu hassen."
Manchmal, sagt Rosa, als Garabet wieder zu Hause war und geschlafen habe, habe sie versucht, ihm den Bart abzuschneiden. Aber immer sei Garabet aufgewacht und habe sich davongewunden. Was ist schon ein Bart, wenn man nicht glaubt, wofür er steht?
Die Erlösung
Am 6. Juni 2017, ein paar Wochen nachdem Garabet den Unterricht des Islamischen Staates hinter sich gebracht hatte, begann der Sturm der Syrian Democratic Forces auf Rakka. Und damit die Luftschläge: Drei lange Monate fielen Bomben auf die Stadt. Garabet versuchte einen Fluchtweg zu finden. Er machte sich alleine auf den Weg. In der Nähe des schwarzen Stadions schoss jemand auf ihn und traf ihn am Fuß. Er hatte Glück, das Projektil schlug an den Knochen vorbei und ging glatt durchs Fleisch. Garabet kehrte zu Rosa zurück.
Die Jets bombten Rakka, die Stadt, in der Garabet und Rosa liebten, tanzten, feierten und beteten, zu Trümmern. In ihrer Nachbarschaft zerbombten sie Apartmenthäuser. Garabet und Rosa suchten im Flur ihres Hauses Schutz. Er legte seinen Arm um sie. "Habe keine Angst, es geht vorbei", sprach er ihr Mut zu. Die Luftschläge waren unerbittlich. Ein Luftschlag erschütterte ihr Haus und riss ein Loch in ihre Schlafzimmerwand. "Wir sollten von hier weg. Wir können nicht mehr bleiben. Es ist Zeit, zu gehen", sagte sie. Und dann flohen sie, Rosa unter dem schwarzen Gewand, Garabet humpelnd; sie folgten anderen, wussten zuerst nicht, wohin, und fanden dann Zuflucht in einem Gebäude, in dem schon andere Familien kauerten. Niemand traute sich, einen Schritt auf die Straße zu tun, aber Rosa, die vorher gefragt hatte, in welcher Richtung die SDF-Kämpfer waren, drängte und sie folgten ihr. Ein Muslim habe den verletzten Garabet getragen, erinnert sie sich.
Schließlich erreichten sie eine Basis der SDF in der Nähe des schwarzen Stadions. Rosa riss sich den Nikab vom Kopf. Und sie hörte, wie ihr jemand zurief: "Rosa!" Es war einer ihrer Cousins, der sie erkannte. "Ich habe es herausgeschafft!", rief sie ihm zu. Garabet und Rosa verstanden, dass ihr Martyrium ein Ende hatte. "Ich habe mich gefühlt wie wiederauferstanden", sagt er. Kämpfer einer christlichen Miliz brachten sie in die Stadt Tell Abjad. Dort ging Garabet zum nächstbesten Friseur und ließ sich den Bart abschneiden.
Anfang September 2017 gelang es den Syrian Democratic Forces, Rakka zu befreien. Bis heute ist die Stadt zerstört. Ein paar Familien sind zurückgekehrt, leben in den ersten Etagen halb zerstörter Gebäude. Arbeiter renovieren den Naim-Platz, wo der Islamische Staat einst Köpfe aufgespießt hat. Der Brunnen in der Mitte ist mit hell- und dunkelblauen Fliesen gekachelt und mit Sandsteinen eingefasst. Nachts leuchtet er neonpink und neonblau. Über dem völlig zerstörten Governeratsgebäude steigen dichte Staubwolken in die Höhe. Lkws schaffen die Trümmer weg. Doch der Wiederaufbau scheint in weiter Ferne. 80 Prozent der Gebäude der Stadt sind zerstört, sagen die Vereinten Nationen.
Ein Baum in einem leeren Land
Im Schlafzimmer der Wohnung von Rosa und Garabet repariert ein Handwerker ihr Ehebett. Die Wände, die im Sturm auf Rakka geborsten waren, sind wieder geflickt. Manchmal kommt Samira, die Nachbarin, die mit ihrer Familie in der obersten Etage wohnt, herunter; sie und Rosa rauchen Zigaretten und trinken dazu schweren, schwarzen Kaffee, die beiden unterhalten sich über Alltägliches. Rosa und Garabet haben Glück gehabt. Von dem Leben, das sie vor den Ereignissen hatten, ist ihnen zumindest die Wohnung geblieben. Und das schwarz-weiße Bild vom jungen Garabet, das über dem knarzenden Sofa hängt. Aber christliches Leben gibt es keines mehr in Rakka. Die Bishara-Kirche ist vollständig zerstört. In den Trümmern verwittern Flugblätter des Islamischen Staates. "Demokratie: Ihre Herrschaft und die Herrschaft ihrer Verfechter" steht darauf geschrieben – Pamphlete gegen eine Staatsform, die der Islamische Staat als Sünde ansah. Von der Kirche der Märtyrer steht heute nur noch das Gerippe. Die Eisenbewehrungen ragen wie Spieße aus dem geborstenen Beton. Noch immer klafft das riesige Loch des Fluchttunnels im Boden der Kirche. Inzwischen hat sich knietief Grundwasser darin gesammelt. Die Bühne ist unter dem Abraum aus dem Tunnel verschwunden. Die Wand dahinter schwarz gestrichen.
Rosas und Garabets Neffe Mosis Nasri ist im Herbst ohne seine Familie zurückgekehrt, aber nur, weil er in Armenien, wohin er geflohen war, keine Arbeit gefunden hat und hier seine kleine Apotheke wiedereröffnen konnte. "Ich bin wie ein Baum in einem leeren Land", sagt Mosis, so einsam fühlt er sich in der Stadt, in der er aufgewachsen ist. Sie haben zu dritt Weihnachten gefeiert, das erste Mal nach den Ereignissen.
Rosa hat keine Hoffnung mehr, dass mehr Christen nach Rakka zurückkehren. "Wie können sie kommen, alle sind in anderen Ländern – Deutschland, Russland, Amerika, Türkei?", fragt Rosa. Wenn der Islamische Staat das Ziel einer ethnischen Säuberung hatte, ist es ihm hier gelungen. Nach dem Fall Saddam Husseins im Irak war die Herrschaft des Islamischen Staates die zweite große Zäsur für das Christentum in der Levante in der jüngeren Vergangenheit. Ein Drittel der noch hier lebenden Christen will das Geburtsland ihrer Religion verlassen. Vor allem die Jungen bauen sich ein neues Leben in anderen Ecken der Welt auf.
Im Paradies
Rosa sagt dem Übersetzer später noch, dass die Ereignisse sie in ihrem Glauben gefestigt hätten. "Gott war nicht grausam zu uns. Was uns passiert ist, hat uns Gott gegeben, um uns zu stärken." Kann Glaube wirklich so unerschütterlich sein? Gehört Zweifel nicht auch dazu? Aber vielleicht fragt man das nur, wenn Glaube nicht ein so fundamentaler Baustein der eigenen Identität ist, wie er es für Rosa und Garabet darstellt.
Vielleicht wären sie einfacher davongekommen ohne ihr Festhalten am Glauben, vielleicht wäre Garabet nicht im Gefängnis gelandet, vielleicht hätten sie ihn nicht gefoltert, vielleicht hätte Rosa nicht hungern müssen. Aber was wäre dann geblieben? Die Werkstatt, an der er sich abarbeitet? Die Wohnung, deren Fenster noch immer zerstört sind? Die Kinder, die sie nie hatten? Die verstreute Familie? Sie haben einander, sicherlich. Aber wer wären sie ohne ihren Glauben?
Garabet habe genug geredet, findet Rosa. "Er denkt an seine Arbeit", sagt sie. "Er hat viel zu tun." In seiner Werkstatt steht immer noch der Laster, der zusammengeschweißt werden muss. Also raucht Garabet seine Zigarette zu Ende, geht aus dem Haus, setzt sich in seinen Transporter und scheppert los in Richtung Werkstatt.
Seine Nachbarn werden ihm zurufen und er wird sie zurückgrüßen. Das Marienbild wird vom Rückspiegel baumeln und das Kreuz. Um sechs Uhr wird er zurückkommen und auf seine krächzende Hupe drücken, um seine Ankunft Rosa anzukündigen. Manchmal wird er sich in der Trümmerlandschaft verfahren.
Rosa wird sich um die Wohnung kümmern, Kaffee trinken und Zigaretten rauchen, vielleicht ein wenig häkeln; ihre Nachbarin Samira wird sie besuchen und ihr Neffe Mosis. "Wir waren in der Hölle, und jetzt sind wir im Paradies", hat Garabet vor seiner Abfahrt in die Werkstatt gesagt. Manchmal ist das Paradies ein einfaches Leben.