Der König der Meere
Es ist kein guter Tag für die letzte Schlacht. Der Scirocco, der Südwind, der warme Luft über das Mittelmeer treibt, peitscht die Wellen hoch, lässt das tiefblaue Wasser vor Sardinien in die falsche Richtung strömen. Die Männer fürchten, dass sie für einen trägen Tag auf das Meer hinaus fahren werden, um unverrichteter Dinge zurück zu kehren. Doch die Besitzer der Fischerei machen Druck, wollen die Saison zum Abschluss bringen. Und so steigen die drei Dutzend Männer in Holzboote und Metallkähne und lassen sich von einem Fischerboot hinaus zu der Falle ziehen, wo die Schlacht stattfinden soll.
Sie sind auf der Jagd nach Thunnus Thynnus – Bluefin Tuna, dem größten aller Thunfische, dem teuersten. Thunnus Thynnus glänzt am Bauch silbrig, am Rücken blau wie das Meer – daher sein englischer Name. Seine Flossen sind leuchtend gelb. Um die Augen schliert die Haut wie ein Ölfilm auf dem Wasser. Sein stromlinienförmiger Körper ist auf Geschwindigkeit getrimmt. Er ist einer der schnellsten Fische überhaupt, beschleunigt in Sekunden auf bis zu 70 Kilometer die Stunde, überquert den Atlantik in vierzig Tagen, schwimmt von den Kanaren nach Island, von Mexiko nach Neufundland. Sein Energiebedarf ist enorm. Seine Kiemen müssen ständig mit Wasser durchspült werden, damit er genug Sauerstoff bekommt. Wenn er nicht in Bewegung bleibt, stirbt er. Im Gegensatz zu den meisten anderen Fischen ist er Warmblüter, kann sich daher an die Kälte großer Tiefen anpassen, bis zu 1000 Meter tauchen. Ernest Hemingway nannte ihn den König der Fische. Thunnus Thynnus stünde an der Spitze der Nahrungskette – wenn da nicht der Mensch wäre, der ihn innerhalb einer Generation an den Rande der Ausrottung gefischt hat.
Vor 3.000 Jahren sollen die Phönizier die Fangtechnik der Männer auf den Booten entwickelt haben: verankerte Netzen, die fünf Kammern bilden. Diese Falle für den König der Fische nennt sich Tonnara, wie die Unternehmen dahinter. Die Fischer, die Tonnarotti, treiben die Fische bis in die letzte Kammer, die Kammer des Todes. Dort hieven sie die Fische an die Oberfläche, töten sie und lassen sie auf Booten ausbluten. Mattanza nennen sie das – das Schlachten. Über die Jahrtausende gab es hunderte, wenn nicht tausende Tonnaras im Mittelmeer. Heute gibt es noch zwei. Und die Tonnarotti hier sind die letzten, die gegen den Fisch in die Schlacht gehen. Die Mattanza ist ein Relikt, das sich gegen alle Sensibilität um das Wohl von Tieren in die Gegenwart gerettet hat. Im globalen Milliardengeschäft mit Thunnus Thynnus spielen die Tonnaras nur noch eine Nebenrolle. Und jetzt ist ein Streit entbrannt, der ihr endgültiges Ende bedeuten könnte. Dabei stehen sich zwei Unternehmen gegenüber. Das eine geführt von einer Familie, die seit fast fünfhunderten Jahren hier fischt, das andere vor gerade 15 Jahren gegründet. Und zwei Brüder. Es geht um Tradition, um Tierwohl, um die Qualität des Fleisches – aber vor allem um Gewinn.
Streit der Brüder
Die Tonnnarotti sind laut, manche trinken, kiffen, grölen, nennen sich Ciurma nach der Crew auf einem Piratenschiff. Geführt werden sie von einem, der sich mit dem Titel König der Meere brüstet. Und so rufen in die anderen – den König. Er heißt eigentlich Luigi Biggio, aber hier spricht in jeder mit Rais an, dem arabischen Begriff für König. Er hat eine Glatze und einen ergrauten Bart. Seinen runden Bauch trägt er mit Stolz. Vom Heck eines der Holzboote dirigierte er die Männer zur Schlacht.
Sie lassen die winzige Isola di San Pietro hinter sich. Im Norden kann man die Hauptinsel Sardiniens erkennen. Die Kamintürme eines stillgelegten Kohlekraftwerks dominieren die Landschaft um das Dorf Portoscuso. Dort findet sich die andere verbliebene Tonnara, wo sie zuletzt im vergangenen Jahr geschlachtet haben. Seit diesem Jahr halten sie den Fisch in einem Käfig und schießen ihn, wenn die Nachfrage da ist, mit Unterwassergewehren. Der Fisch stirbt sofort. Er sei dann weniger gestresst, dessen Fleisch besser, die Margen deshalb größer, sagt man dort. “Wir wollen die Tradition, unsere Werkzeuge, die Ciurma nicht verlieren”, sagt hingegen Biggio. Vordergründig geht es dem Streit zwischen den beiden Tonnaras um diese Fangtechnik.
Biggios Weg zum Rais begann eher widerwillig. Es war das Letzte, was er machen wollte, sagt er. Er ist in der Schweiz geboren, wo der Vater damals arbeitete. Aber dann ging es zurück nach Italien und sein Onkel, der alte König, heuert ihn an. 17 Jahre war Biggio damals alt. Der Onkel habe die Tonnarotti behandelt wie Sklaven. Sie mussten schwere Anker auf ihren Rücken schleppen, obwohl es Karren dafür gab, erinnert sich Biggio. Er arbeitete sich hoch, übernahm mehr Verantwortung. Als der alte König abtrat, gab es keine Frage, wer der neue werden wird, sagt Biggio. Er natürlich. Niemand würde die Fische so gut verstehen, niemand so gut die Netze setzen. Nicht die Fischer auf Sizilien, alte Männer, inzwischen in Rente, nicht sein Bruder Ettore Biggio, der Rais der anderen Tonnara. Die beiden arbeiteten einst zusammen, Ettore unter Luigi, aber sie zerstritten sich und wechseln heute kaum ein Wort mehr miteinander.
Wie an einer Kette bewegen sich die Boote über das Meer. Vorne das motorbetrieben Fischerboot, dann an Tauen die Holzboote und Metallkähne. Die Männer der Ciurma haben sich Namen gegeben, mit denen sie sich hier rufen. Einen nennen sie Sparedda, wie eine Art kleiner Fische, einen anderen Zichichi nach einem italienischen Physikprofessor und wieder einen anderen Cazzillo – italienisch für kleiner Penis. “Wenn es im nächsten Jahr irgendwo anders Arbeit gibt, wird hier keiner mehr sein”, sagt Zichichi. Doch hier gibt es wenig Perspektiven. Carbonia, die größte Stadt der Gegend ist eine triste Arbeitersiedlung. Sie scheint wegen der Schließung des Kohlekraftwerkes ihrer Existenzgrundlage beraubt. Und nur wenige Touristen verirren sich in den Sommermonaten hierhin. Bleibt die Fischerei: harte Arbeit, schlecht bezahlt. Einfache Tonnarotti verdienen 50 Euro am Tag und das nur während der sieben Monate der Saison.
Die Männer kommen an der Falle an, vertauen die Boote an Bojen. Vom Ufer spannt sich ein Netz einen Kilometer aufs Meer hinaus. Es lenkt die Thunfische in die erste, die große Kammer. Dann kommt eine Kammer namens Bordonaro, dann Bastardo, dann die Kammer des Westens und schließlich die Kammer des Todes. Letztere hat ein nach unten geschlossenenes Netz, mit dem die Tonnarotti die Fische an die Oberfläche hieven. Dieses System von Netzen ist Biggios Meisterwerk, er setzt es mit Augenmaß, nicht mit Hilfe von GPS wie sein Bruder. Vor ein paar Jahren, erzählt er, hat er für sein Können einen Titel geholt, der ihn zum besten Rais im Mittelmeer erklärt hat: König der Meere. König vor allem über Thunnus Thynnus.
Nachdem Thunnus Thynnus tausende Kilometer über den Atlantik geschwommen ist, erreicht er durch die Straße von Gibraltar das Mittelmeer. Hier schwimmt er in Richtung Balearen, wo er laicht. Die Thunfischfallen sind auf der Route immer an den selben Orten gespannt. Ein wenig zumindest ist es dem Zufall überlassen, dass die Fische ihren Weg dahin machen. 548 Fallen hat Ambra Zambernardi, Anthropologin, die sich ganz dem Thunfischfang verschrieben hat, kartographieren können. Das östliche Mittelmeer konnte sie sich noch nicht genau anschauen.
“Das KRIMINELLSTE Geschäft der Welt”
Am Tag der Schlacht, draußen auf dem Meer zirkeln die Fische in der Bastardo Kammer im Kreis, zögern ihrem Ende in der Kammer des Todes unwissentlich hinaus. “Sie schwimmen nicht rüber,” schreit der Rais zu seinem Vize über das Meer. Taucher versuchen, sie ihrem Ende entgegen zu treiben, aber die Fische weigern sich beharrlich. Der Rais zieht sich seinen Taucheranzug über und steigt ins Wasser. Oben auf den Booten verfallen die Männer in Trägheit, dösen auf den Planken der Schiffe, die im rauen Meer schaukeln. Sie wissen nicht viel von dem Streit, der sich an Land zwischen den beiden Tonnaras abspielt.
Verdeckt von einer Landzunge, die einen natürlichen Hafen mit türkisblauem Wasser bildet, liegt die Tonnara der Isola di San Pietro, für die Rais Luigi und seine Männer arbeiten. Die erste Etage ist die Residenz der Besitzer, der Familie Greco. Sie hat die Fabrik 1671 vom König von Spanien gekauft. Der war damals in Finanznöten und musste Liegenschaften veräußern. Die Residenz ist eine andere Welt als die der Fischer. An den Wänden hängen alte Karten und üppige Ölgemälde.
Es ist ein paar Tage vor der Mattanza. In einem Zimmer mit schweren, dunklen Möbeln sitzt Pier Greco und telefoniert aufgeregt mit seinem Vater. Der Sohn ist hier, um den Streit mit der anderen Tonnara zu schlichten, nun, wohl eher zu gewinnen. Am Telefon geht es gerade darum. Doch zuerst will der Vater vom Fang des Tages hören. Viel Schwertfisch hätten die Fischer an Land gezogen, erzählt der Sohn. Schwertfisch geht oft mit Thunfisch ins Netz, ist aber lange nicht so wertvoll. Das Telefonat dreht sich eine Weile darum bis es dem Sohn zu bunt wird. “Vergiss den Schwertfisch und sag mir, warum du mit mir sprechen willst,” raunzt er ins Telefon.
Der Vater ist inzwischen 97 Jahre alt, residiert in Genua, hat sich aus dem Geschäft zurückgezogen und jetzt sind die drei Söhne an der Macht. Andrea Greco ist Anwalt in Genua, kümmert sich wenig um die Tonnara. Giuliano Greco führt das Tagesgeschäft, geht selbst in den Netzen tauchen. Und dann ist da Pier Greco, der sich im Hintergrund um Finanzen und Rechtliches kümmert. Er scheint wie aus der Zeit gefallen, trägt teuerste Kleidung, die Hemden bis unter die Brust aufgeknöpft. Sein Lebenslauf ist illuster. In den 90er managte er Models in Paris, später machte er Lobbyarbeit im Europaparlament – für Russland. Jetzt verkauft er die Geschichte der Tonnara und spielt dabei mit den dunklen Seiten der Jagd nach dem Fisch. “Das Thunfischbusiness ist das kriminellste Geschäft der Welt”, sagt er. Zumindest ein wenig Wahrheit steckt darin.
Im Jahr 2018 ging Europol, die Polizei der Europäischen Union, gegen ein Netzwerk vor, das vor allem in Italien und Malta über die erlaubte Quote hinaus fing und in Spanien verkaufte. Europol konfiszierte 80 Tonnen Thunnus Thynnus und nahm 79 Personen fest. Die Behörde schätzte, dass kriminelle Banden jedes Jahr doppelt so viel im Mittelmeer fischen wie legal erlaubt ist. “Jeder ist mit der Mafia verbandelt – außer ich”, sagt Pier Greco über die Firmen im Thunfischgeschäft. Er macht eine kurze Pause und korrigiert sich. “Mich kannst du auch dazu zählen, denn ich verkaufe über die.” Bei Greco weiß man oft nicht, ob er es ernst meint, oder sich interessant machen will. In den 90ern zumindest war die Mafia tief in das Thunfischgeschäft auf Sizilien involviert. Sie hatte im Osten der Insel ein Monopol, das sich langsam auf der Insel ausbreitete. Es brachte der Mafia Millionen ein. Erst gegen die Jahrtausendwende konnten die italienischen Behörden dieses Monopol brechen.
Greco und sein Vater schreien sich eine Weile weiter am Telefon an. Dann legt er auf und erzählt von diesem Streit, von dem er fürchtet, dass er das Ende der Tonnaras bedeuten könnte. “Es kann sein, dass dies das letzte Jahr der Mattanza auf Sardinien ist”, sagt er. Die Tonnara auf der anderen Seite betreibt Andrea Farris, der vor 15 Jahren in das Geschäft eingestiegen ist. Farris und Greco waren Geschäftspartner, sind es eigentlich immer noch. Doch in diesem Jahr hat Farris sein Geschäftsmodell umgestellt. Es gibt keine Mattanza mehr, sondern einen Käfig, in dem er die Fische schießen lässt und sie teuer in Italien verkauft.
“Für meinen Vater ist der Käfig eine Abscheulichkeit. Für ihn bedeutet der Käfig, dass man den Fisch nicht ehrt”, sagt Greco. “Für ihn ist es schlimmer als wenn ich gesagt hätte: ab heute bin ich schwul. Naja, vielleicht steht er der Idee eines schwulen Sohnes doch offener gegenüber.” Die Moralvorstellungen scheinen in der Welt des Vaters so archaisch, wie die Methoden des Thunfischfangs. Doch auch die Familie Greco nutzt seit zehn Jahren moderne Methoden. Einen Großteil ihrer Quote fängt sie einem Käfig, den sie an die Thunfischfalle hinter die Kammer des Todes angeschlossen hat. Der Käfig gehörte der Firma Fuentes, einem der größten Spieler in diesem Geschäft. Wenn die Fische im Käfig die Quote erreicht haben, die die Familie Greco an Fuentes verkauft hat, schleppen Schiffe ihn vor die Küste Spaniens. Dort werden sie mit billig eingekauftem Fisch gemästet – Makrelen aus dem Atlantik zum Beispiel. Auch in diesen Fischfarmen tötet man mit Unterwassergewehren. Der Disput geht also um mehr als um den Fortbestand der Mattanza.
Greco wirft Farris vor, über seine erlaubte Quote hinaus illegal zu fischen und dadurch, schließlich ist er noch Anteilseigner an Farris Operation, selbst rechtliche Probleme zu bekommen. Farris hingegen sagt, dass Greco sieht, wie erfolgreich die neue Art des Thunfischfangs ist, wie teuer er das Fleisch verkaufen könne, dass Greco fürchte, wirtschaftlich abgehängt zu werden und deshalb gegen Farris schieße. Seit 2020 ist der Preis für Thunnus Thynnus eingebrochen, lag zwischenzeitlich bei vier Euro das Kilo. Acht Euro, sagt Greco, braucht er, um keinen Verlust zu machen. Farris sagt, er verkaufe seinen Fisch für 18. “Der hat keine Ahnung, was eine Tonnara ist. Der weiß nur, dass sie groß und im Meer ist”, sagt Farris über Greco.
“Eine Abmachung zwischen Familien”
Ein paar Tage später fährt Farris mit dem Schlauchboot hinaus zu seiner Thunfischfalle. Niemand trinkt hier, niemand kifft, niemand grölt. Taucher gehen mit den Gewehren ins Wasser, mit einem Kran ziehen sie die Fische in das größte der Boote. Ettore Biggio leitet die Operation, er ist der Rais hier, sieht aus wie eine schlanke, junge Version seines Bruders. Nach dem Streit mit ihm gab Ettore seinen Job auf. Als Farris ins Geschäft einstieg und einen eigenen Rais suchte, erinnerte er sich an Ettore und heuerte ihn an. Ettore macht alles anderes als sein Bruder.
“Die lieben ihre Tradition von Herzen”, sagt Ettore über die Tonnarotti auf der anderen Seite. Am Ende eines Tages auf dem Meer, essen sie dort gemeinsam an einer rund zehn Meter langen Tafel in einem verfallenden Raum der Fabrik, die dort seit 1880 steht. Satan kocht. Er bereitet Hummer zu, Spaghetti mit Schwertfischrogen oder Lattume – Thunfischsperma. An der Sitzordnung kann man die Hierarchien ablesen. Der Rais sitzt am Kopfende, neben ihm die Gäste, dann folgt sein Vize, die Kapitäne der einzelnen Boote und schließlich die einfachen Fischer. Ettore hält nicht viel von diesen Riten. Arbeit ist Arbeit, nicht mehr. Wo sollten sie auch essen? Die Fabrik von Farris liegt in einem Gewerbegebiet, ist kühl und funktional.
Plötzlich taucht über den Felsen an der Küste ein Hubschrauber auf und kreist über den Käfig von Farris. Es ist die Küstenwache. Aus Richtung Portoscuso kommen zwei Schlauchboote angerast: eine Razzia. Farris regt sich auf. Der Fang ist für den Tag vorbei. Die Fische sind gestresst durch den Lärm des Helikopters, den Lärm der Boote und durch die Taucher der Küstenwache, die seinen Käfig unter Wasser inspizieren. Farris vermutet Greco hinter der Razzia. “Wir hatten eine Abmachung zwischen Familien” schäumt er, schüttelt den Kopf und fährt frustriert zurück nach Portoscuso. Dort konfisziert die Küstenwache Farris’ Tagesfang, weil ein Beobachter der International Commission for the Conservation of Atlantic Tunas (ICCAT) bei dem Fang hätte dabei sein müssen. Das war aber nicht so. Am Telefon versucht Farris die Küstenwache umzustimmen, den Fisch freizugeben, vergeblich. “Ich hasse ihn”, sagt Farris über Greco und schwächt seine Aussage gleich ab: “… ein bisschen.”
“Es ist ein Disput zwischen zwei idioten”, sagt Greco. “Der wahre Feind ist Sizilien.” Tatsächlich sind die Fangquoten von Farris und Greco zusammen relativ gering: 350 Tonnen dürfen sie fischen. Insgesamt hat Italien in diesem Jahre eine Quote von 4.700 Tonnen von ICCAT zugeteilt bekommen. Der Großteil davon an moderne Schiffe auf dem offenen Meer, die oft in der Hand der Sizilianer sind. Um mehr Quote zu bekommen, muss man Einfluss im zuständigen Ministerium üben. Das geht gemeinsam besser. “Wenn wir uns trennen, sterben wir”, sagt Greco.
Wie es endet, wenn die Tonnaras nicht genug politisches Gewicht aufbringen, kann man allerdings auch in Sizilien sehen. Die Anfänge der Tonnaras liegen dort dokumentiert 2,500 Jahre zurück. Doch die lange Tradition ist dahin. 2019 wollte man nach zwölf Jahren Pause erneut starten, doch bekam nur zwölf Tonnen zugeteilt – und fing 20 Fische.
Aufstieg und Fall Von Thunnus Thynnus
Seit mindestens zwei Millionen Jahren herrscht Thunnus Thynnus im Atlantik und im Mittelmeer, doch seit dem Aufkommen der industrialisierten Hochseefischerei sind seine Bestände eingebrochen: zwischen 1957 und 2007 um 74 Prozent – mehr als die Hälfte davon seit 2000. Verantwortlich dafür ist vor allem Sushi. Der Fisch war über Jahrtausende ein Billigprodukt, landete gekocht in Dosen. Sportfischer in Nordamerika angelten ihn, um mit ihm zu posieren – und ihn dann zu entsorgen. Selbst in Japan wurde er lange verschmäht. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Geschmäcker dort, fettes Essen wurde mit Luxus gleichgesetzt. Und unter den Fischen ist Thunnus Thynnus der Fetteste. Ein japanischer Geschäftsmann bekam mit, wie billig der Fisch in den USA zu haben war, witterte Profit und exportierte ihn nach Japan. Das war der Beginn der Sushi–Wirtschaft. Heute erzielt Thunnus Thynnus Rekordpreise auf dem Tokioter Fischmarkt. 2019 ging ein Exemplar für 2,7 Million Euro an seinen Käufer.
Um 2010 war Thunnus Thynnus im Aussterben begriffen. Die Tonnaras hatten dazu wenig beigetragen. Die großen Massen fängt man mit anderen Techniken: Purse Seines oder Longlines. Bei ersterem zirkeln Schnellboote Schulen von Thunfischen mit einem Netz ein, das an einem Mutterschiff befestigt wird. Das Netz kann bis zu 1,5 Kilometer lang und 150 Meter tief sein. Durch die Vorwärtsbewegung des Schiffes zieht es sich zu und fängt so die Fische. Letzteres sind Kabel, an denen bis zu 3,000 Angelschnüre mit Haken befestigt sind. Longlines können über 100 Kilometer sein. Was Rais Luigi und seine Männer in sieben Monaten fangen, fangen Purse Seines in weniger als einer Woche. Und während bei Purse Seines oder Longliners regelmäßig Delfine oder Schildkröten gefangen werden, können in den Thunfischfallen unerwünschte Fische einfach aus den Netzen gelassen werden.
Für 2011 reduzierte die ICCAT, die Wächterin über den Thunfischbestand, unter öffentlichem Druck die erlaubten Quoten im Ostatlantik und Mittelmeer von 19.950 auf 12.900 Tonnen. Dann versiegte das öffentliche Interesse und die Quote schoss in die Höhe. Dieses Jahr liegt sie bei 36.000 Tonnen. Darüber, ob Thunnus Thynnus weiterhin überfischt ist, gehen die Meinungen auseinander: Im aktuellen Bericht von ICCAT ist die Antwort deutlich. “Nein”, steht da einfach. “Bedroht” sagt hingen die Rote Liste der International Union for Conservation of Nature. Inzwischen, das sagt ein Experte des World Wildlife Fund, sei Thunnus Thynnus seinem Aussterben entkommen. Aber er ist hoffnungslos, dass die Fische je wieder ihre majestätischen Größen erreichen werden. Thunnus Thynnus kann über 30 Jahre alt werden. Während seines Lebens wächst er beständig weiter – bis auf ein Gewicht von 900 Kilo. Dieses Jahr, erzählt Greco, hätte er den größten Thunfisch seit seiner Jugend gesehen: 460 Kilo. Was für ihn heute eine Anekdote wert ist, war früher die Norm. Auf Bildern von Mattanzas vergangener Jahrzehnte sieht man Exemplare, die heute eine Sensation wären.
Die letzte Schlacht
Vor der Isola die San Pietro treiben der Rais und die anderen Taucher die Fische schließlich in die Kammer des Todes. Sie ist von Booten umringt. Als der letzte Fisch in die Kammer schwimmt, beginnen die Männer auf den Booten an der Ostseite, das Netz mit bloßen Händen hoch zu hieven. Ihre Gesichter sind von Anstrengung verzerrt. Wasser peitscht ihnen entgegen. Der Rais hat sich auf eines der Boote gegenüber gestellt, brüllt wütende Anweisungen. Die Fische kommen an die Oberfläche, schlagen wild um sich, kämpfen um ihr Leben.
Die Schlacht beginnt. Tonnarotti springen ins Wasser. Schließlich auch der Rais selbst. Er greift sich ein Exemplar: König der Meere gegen König der Fische. Der Rais schnappt sich einen stählernen Haken, rammt ihn in das Maul des Tieres. Tonnarotti zerren ihn an Board eines der Boote. Hinter ihnen erledigen Benji und Fenicottero, die jüngsten Mitglieder der Ciurma, die Drecksarbeit. Sie versetzen den Fischen mit einem Messer einen Stich hinter den Kopf, um sie ausbluten zu lassen. So soll verhindert werden, dass Stresshormone, die Qualität des Fleisches mindern. Das Boot füllt sich mit Blut. Einige der Fische schlagen weiter um sich. Fenicottero scheint wie im Rausch, sticht ohne zu zögern auf die Fische ein. Benji sieht manchmal geschockt aus, steht regungslos zwischen den Fischen und starrt blutüberströmt in die Leere.
168 Fische holen sie aus dem Wasser, eine kleine Mattanza, keine wie früher, wo sie bis spät in die Nacht geschlachtet haben. Auch die Fische sind klein, rund 90 Kilo im Schnitt. Im Ringen zwischen Mensch und Fisch hat längst der Mensch gewonnen. Die Mattanza ist ein Relikt aus einer Zeit als der Ausgang noch offen war.
Auf dem Rückweg sitzt der Rais auf der Kante des Bootes, raucht, schaut in die Ferne, denkt darüber nach, was er und seine Männer im nächsten Jahr besser machen könnten. “Es war eine gute Saison”, sagt er, aber zufrieden sei er nie. Vielleicht war es heute das letzte Ringen der Könige. Und vielleicht haben sie hier auf der Isola die San Pietro mit dem Festhalten an der Tradition, auch ihr eigenes Ende besiegelt.
Das teuerste Restaurant der Isola di San Pietro hat sich ganz Thunnus Thynnus verschrieben. Es gibt Thunfischtartar, Thunfisch im Sesammantel. Fragt man unter den Tonnarotti nach dem besten Restaurant auf der Insel, fällt dessen Name hinter vorgehaltener Hand. Denn der meiste Fisch dort kommt von der anderen Seite. Er kommt von Farris.